Wie der steigende Meeresspiegel Küstenlinien Strände zerstört und Küstenlinien verschiebt.
Eine Welt ohne Strände?, das war die Überschrift eines Artikels der Zeitschrift The Economist vom August 2019. Als dann Mitte Februar 2020 nach dem Sturmtief Sabine die Meldung Wangerooges Badestrand fast komplett weggespült aufschreckte (Welt), da war diese bedrohliche Perspektive plötzlich ganz aktuell geworden. So wie der Strand jetzt ist, können wir nicht mal 100 Strandkörbe hinstellen., erklärte recht fassungslos der Bürgermeister der Inselgemeinde.
Dabei ist dieses Phänomen bei den Nordseeinseln nicht neu. Der Meeresspiegel steigt an, das ist den meisten Menschen auch in Deutschland nicht mehr fremd, aber gerade mal wenige Prozent der Deutschen wohnen an der Küste oder auf den Inseln der Nordsee. Die Gründe für den Anstieg sind leicht zu verstehen, weniger klar ist, was das langfristig bedeutet, genauer, wie weit der Meeresspiegel über den Zeithorizont des Jahres 2100 hinaus ansteigen könnte: Wenn das Meerwasser sich erwärmt, dann dehnt es sich aus. Dieses Geschehen, so langsam wie erbarmungslos, gleicht einer Zeitbombe; es dauert eben, bis die Temperatur auch in tieferen Meeresschichten durch Strahlung und Konvektion ankommt. Und die schmelzenden Gletscher in Grönland und der Antarktis machen den Rest. Tatsächlich gibt es Filme, die eine Gletscherschmelze im Zeitraffer mit Musik unterlegt zeigen.
In Deutschland wird es auf absehbare Zeit wohl nur geringe Veränderungen von Küstenverläufen geben. Das liegt unter anderem daran, dass wir uns es noch leisten können, einen Anstieg des Meeresspiegels von vielleicht 80 cm bis ins Jahr 2100 durch die Erhöhung der Deiche abzufedern. Die Küstenlänge in Deutschland von knapp 2400 km ist finanziell aber durchaus eine Herausforderung, das wird für Länder wie Niedersachsen oder Schleswig-Holstein nicht billig. Wen das Thema Meeresspiegelanstieg interessiert, kann auf der interaktiven Webseite
www.psmsl.org/data/obtaining/map.html#plotTab
recht genau erfahren, wie das für die Küstenregionen weltweit aussieht. In Deutschland beträgt der Meeresspiegelanstieg aktuell an der Elbmündung in Cuxhaven etwa 2,7 mm/Jahr. Wir können im unteren Teil der Graphik aber auch erkennen, dass sich der Anstieg zwischen den Jahren 1970 und 2000 beschleunigt hat – ein typisches Merkmal von Rückkopplungsprozessen. Je höher die Temperatur, umso wärmer das Meer, umso mehr Klimagase, die bisher im Meer gebunden sind, werden freigesetzt, umso höher die Temperatur, umso schneller schmelzen die Gletscher usf. Stefan Rahmsdorf , Ozeanograf und tätig am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung betont denn auch, es wäre falsch anzunehmen, dass dieser Anstieg eine konstante Rate hätte. Die Beschleunigung ist längst wissenschaftlich belegt. Seit Beginn der Aufzeichnungen um etwa 1840 ist in Cuxhaven ein Anstieg von etwa 35 cm auszumachen, vergleichsweise moderat auf den ersten Blick. Wir können also keinesfalls davon ausgehen, dass der Anstieg in den nächsten 180 Jahren ebenfalls so etwa 35 cm betragen wird.
Die Herausforderung für den Küstenschutz ist aber durchaus komplizierter, denn zu dem Anstieg kommen noch Faktoren wie die Gezeiten und der Windstau hinzu. Sie sind es, die die Erhöhung der Deiche deutlich über die Marke des offiziellen Anstiegs notwendig machen.
Aber zurück zur Insel Wangerooge und den anderen Nordseeinseln. Seit Jahrzehnten sind Strandaufspülungen auf Sylt die Regel. (Sand wird dabei einige Kilometer vor der Insel aus dem Meer gebaggert und auf die zerstörten Strände gespült) Von 1972 bis 2013 wurden dafür insgesamt 170 Millionen Euro ausgegeben, im Jahr 2018 etwa 5 Mill. Ein größerer Handlungsbedarf ist zukünftig garantiert, denn Sand zählt inzwischen zu den knappen Gütern dieser Welt. Er ist ein wichtiger Rohstoff für die weltweit boomende Bauindustrie, deshalb werden die Probleme in den nächsten Jahrzehnten nicht geringer. Diese Knappheit ist der Grund, warum an allen Stränden dieser Welt im großen Stil, in der Bretagne genauso wie auf Sardinien oder Goa, Sand geklaut wird, meist nachts, andernorts, wo Bestechung noch funktioniert, auch recht offen. Zweitens wird kaum neuer Sand in die Weltmeere gespült, da die vielen Staudämme dies verhindern. Betrachten wir allein die Planungen für neue Staudämme in China oder am blauen Nil in Äthiopien, dann werden die Folgen einer solchen Praxis geradezu gespenstig. Irgendwann einmal werden diese Strandaufspülungen trotz der Ausfälle beim Tourismus wohl nicht mehr wirtschaftlich abzubilden sein.
Anders als in Deutschland wird es in vielen Regionen der Welt wegen des Meeresspiegelanstiegs ohne eine Zurücknahme des Küstenverlaufs nicht gehen, je nach Region mit ganz unterschiedlichen Folgen. Erst im Winter 2019/2020 hat das Hochwasser in Venedig vor Augen geführt, was geschehen kann, wenn das nicht gelingt, was der oben erwähnte Artikel aus The Economist formuliert: Construct the hardware (floodwalls) install the software. (governance and awareness) Vor Venedig kommt der Bau des 6 Mrd. Euro teuren M.O.S. E.-Projekts teilweise wegen Korruption nicht von der Stelle. Ausgerechnet Venedig!, denken viele Menschen. Aber finanziell gesehen sind die Küsteninfrastrukturen an der amerikanischen Ostküste ungleich bedeutsamer. The Economist nennt allein für die 72000 Gebäude New Yorks, die in der Überflutungszone liegen, einen Wert von 129 Mrd. Dollar. Es ist überhaupt zweifelhaft, ob wirksame Schutzmaßnahmen auch umgesetzt werden. Als Begründung wird der begrenzte Zeithorizont der meisten Menschen genannt – und die Unfähigkeit von Investoren, über einen Zeitraum von 20 Jahren hinauszudenken.
Der Begriff shifting baselines , wird häufig in Zusammenhang mit dem Artensterben genannt, er beschreibt das Vergessen von Generation zu Generation. Wie die Welt einst ausgesehen hat, dieses Wissen verschwindet mit dem Sterben der Alten: Wie groß ein Kabeljau vor hundert Jahren war, das wissen wir nur noch von alten Fotos, wie viele Rebhühner oder Hasen es in der deutschen Flur vor hundert Jahren gab, dazu müssen wir die Aufzeichnungen der Jagdstrecken von vor hundert Jahren lesen. Der Begriff shifting baselines könnte dann auch im Kontext der Veränderungen der Küstenlinien eine Rolle spielen. Die Vertriebenen werden um den Verlust ihrer Häuser und ihrer Heimat trauern, die nächste, spätestens die übernächste Generation wird sich an veränderte Küstenlinien gewöhnt haben. Und wahrscheinlich werden unsere Enkel nicht mehr wissen, wie bezaubernd die Küsten unserer Nordseeinseln einst waren.